Die „Neugründung“ Boliviens

Von Helge Buttkereit

aus: Blätter für deutsche und internationale Politik“ Heft 2/2010

Wohin steuert Bolivien? Diese Frage stellt sich nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen von Dezember erneut. Auch und gerade, weil Evo Morales und seine „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) die Wahlen klar gewonnen haben
.

Zwar wurde mit der Verabschiedung der neuen Verfassung im Januar 2009 die proklamierte „Neugründung“ des Landes hin zu einem „plurinationalen Staat“ auf den Weg gebracht. Erklärtes Ziel ist dabei ein Staat, in dem die indigene Bevölkerungsmehrheit 500 Jahre nach Beginn der spanischen Conquista ihre Rechte und vor allem ihre Würde zurückerhält – ein Staat, der wieder den Menschen und nicht das Kapital in den Mittelpunkt stellt. Aber der genaue Charakter dessen, was sich in Gründung befindet, ist noch immer viel zu unbestimmt.

Nach Wahl und Referendum muss daher nun die Verfassung in die Realität umgesetzt werden. Die Voraussetzungen dafür sind besser als bisher. Die 64 Prozent der Wählerstimmen sind für Morales und seinen Vizepräsidenten Álvaro García Linera ein klarer Vertrauensvorschuss. Insgesamt belegt das Wahlergebnis vom Dezember eine deutliche Verschiebung der politischen Stimmung zugunsten der Regierung.

Zwar gewann die Opposition erneut die rohstoffreichen Tieflanddepartements Pando, Beni und Santa Cruz, aber selbst dort erhielt Morales mehr Stimmen als zuvor. Das vorher oppositionell beherrschte Tarija fiel sogar ganz an die MAS, die sich auf diese Weise eine deutliche Mehrheit im Senat sichern konnte.

Sowohl im Abgeordnetenhaus als auch im Senat verfügt die MAS nun über mehr als zwei Drittel der Mandate. Dies ist für einige Gesetze notwendig, die im Zuge der Umsetzung der Verfassung verabschiedet werden sollen. In der vergangenen Wahlperiode legte die oppositionelle Mehrheit im Senat der Neugründung immer wieder Steine in den Weg. Nun kann der indigene Präsident ohne parlamentarische Störfeuer der Opposition regieren und die „demokratisch-kulturelle Revolution“ (Morales) entschieden vorantreiben.[1]

Mit den ersten Entscheidungen nach der Wahl setzte die Regierung denn auch ein klares Zeichen, nicht zuletzt durch die Enteignung einiger tausend Hektar Land von Branko Marinkovic, einem kroatischen Großgrundbesitzer und erbitterten Morales-Gegner, der seine Reichtümer in erster Linie illegalen Geschäften verdankt.[2] Bis 2009 führte er das Bürgerkomitee von Santa Cruz, das einer der wichtigsten Initiatoren des gescheiterten Putschversuches vom Herbst 2008 war.

Ob die gewaltbereiten Bürgermilizen im Tiefland als Antwort auf ihre Wahlniederlage bei der nächsten Gelegenheit wieder mit Waffengewalt gegen die Regierung vorgehen werden, muss sich zeigen. Die Gefahr besteht jedenfalls unvermindert fort. Allerdings hat die verstärkte Einbindung vormaliger Gegner die Lage im Land etwas beruhigt.

Die Parteien der Opposition eint derzeit einzig die Ablehnung von Morales. Ein eigenes Projekt für die Zukunft des Landes haben sie nicht zu bieten. Symptomatisch dafür ist die Tatsache, dass der Zweitplatzierte bei den Präsidentschaftswahlen, Manfred Reyes Villas, Mitte Dezember nach Korruptionsvorwürfen untertauchte. Aus diesen Gründen scheint das Projekt von Morales gegenwärtig einigermaßen gesichert.

Die Umarmungsstrategie von Präsident und Vizepräsident gegenüber wankelmütigen Oppositionellen, die um des Machterhalts willens die Seiten gewechselt haben, könnte aber auch zum Bumerang werden. Viel wird davon abhängen, ob aus Gegnern der Regierung loyale Gefolgsleute oder ob sie – wie viele Karrieristen im Nachbarland Venezuela – zum Problem für das ambitionierte Projekt werden.

Was bedeutet „Neugründung“?

Doch auch die Regierung hat, was langfristige Visionen angeht, einiges nachzuholen. Insbesondere das Ziel der „Neugründung“ des Landes ist, jenseits der Rückkehr der Indigenen in die Politik, der Abkehr vom Neoliberalismus und der Unterstützung der Armen, derzeit noch viel zu nebulös. Die visionäre Perspektive des Projektes von Evo Morales ist bislang zu wenig deutlich geworden. Dabei machen die politischen Verhältnisse in Bolivien andere Schritte möglich als jene, welche bisherige sozialistische Parteien und Bewegungen beschritten haben – und zumeist damit gescheitert sind.[3]

Unter realpolitischen Gesichtspunkten haben Morales und seine Bewegung in den vergangenen vier Jahren große Erfolge zu verzeichnen. Insbesondere die Verstaatlichung der Gas- und Ölreserven eröffnete neue finanzielle Spielräume. So wurden der Mindestlohn angehoben und der Analphabetismus bekämpft; Alte erhalten eine „Rente in Würde“ und fast zwei Millionen Kinder Schulgeld von der ersten bis zur achten Klasse.

Außerdem wurde eine Unterstützung für Mütter und Schwangere eingeführt. Selbst Gilbert Terrier, Ökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF), lobte im vergangenen Herbst das Land für seine Wirtschafts- und Sozialpolitik. Das Wachstum von vier Prozent trotz der globalen Krise, der Schuldenabbau von 4 Mrd. US-Dollar im Jahr 2006 auf 2,4 Mrd. 2009, der Verzicht auf neue Schulden wie auch der Aufbau von Währungsreserven seien mustergültig, hieß es.

Der IWF-Ökonom ließ es sich aber auch nicht nehmen, Morales aufzufordern, sich am Ende der Krise allmählich von der impulsgebenden Rolle des Staates zu verabschieden. Wirtschaftsminister Luis Arce wies dies jedoch prompt mit dem Argument zurück, Bolivien verfolge ein „neues Wirtschaftsmodell“.[4]

Wie genau dieses Modell auf Dauer aussehen kann, bleibt allerdings vage. Bolivien sucht zweifellos ein neues Wirtschaftssystem jenseits des Kapitalismus;[5] derzeit agiert die Regierung jedoch primär staatskapitalistisch nach den Ideen von Vizepräsident García Linera. Sein Land verfolge das Ziel eines speziell andin-amazonischen Kapitalismus, schrieb dieser bereits zu Beginn der ersten Regierungsperiode 2006.

Es gehe darum, dass der Staat „die Expansion der Industrie reguliert, ihre Überschüsse abschöpft und in den kommunitären Bereich lenkt, um Prozesse der Selbstorganisation und der eigenständigen andin-amazonischen Marktentwicklung zu stärken.“[6]

Für einen eigenständigen bolivarischen Weg zum Sozialismus ist diese Form des Staatskapitalismus ersichtlich zu wenig. Doch auch die Verfassung trifft hinsichtlich der „Neugründung“ keine klare Aussage. In ihr stehen mehrere ökonomische Leitbilder nebeneinander, werden sowohl die lokale Gemeindewirtschaft als auch die kapitalistische Ökonomie in ihrem Bestand garantiert.

Daher sind hinsichtlich der ökonomischen Zukunft Boliviens insbesondere zwei Szenarien denkbar. So wäre zum einen eine unheilige Allianz kollektivistischer Gemeindewirtschaft mit einem staatlich gelenkten Kapitalismus möglich, wenn nicht wahrscheinlich. Dies würde bedeuten, dass ein staatskapitalistischer Apparat den Wohlstand aus der Ausbeutung der erheblichen fossilen Energievorkommen bezieht (und dabei künftig auch die größten Lithium-Vorräte der Welt im Salzsee von Uyuni immer stärker nutzen wird).

Mit den Erlösen auf dem Weltmarkt könnten dann weitere Sozialprogramme finanziert werden. Damit liefe Bolivien Gefahr, den Weg aller Öl-Rentierstaaten zu gehen, in denen sich eine eigenständige Ökonomie kaum oder gar nicht entwickelt, dafür aber eine massive Abhängigkeit vom Weltmarkt und seinen Schwankungen bei den Energiepreisen besteht.

Allheilmittel Koka-Anbau

Daneben würde diese „Allianz“ in der Gemeindewirtschaft weiterhin verstärkt auf das Koka setzen. Dieses ist zwar eine traditionelle andine Pflanze und hat in der Tradition nichts mit Kokain zu tun.[7] Seinen hohen Preis verdankt das Koka jedoch seiner Funktion als Rohstoff für das Rauschgift. Und genau dieser hohe Preis ist es, der das Koka für die Koka-Bauern, die Cocaleros, derzeit unersetzbar macht.

Die von Morales verfolgte Politik des „Koka ja, Kokain nein“ trägt dieser Weltmarktsituation nicht hinreichend Rechnung. Sie bewegt sich ohnehin, schon aus Rücksicht auf die eigene Klientel, mehr auf der rhetorischen Ebene. Es reicht jedoch nicht aus, wie vergangenes Frühjahr geschehen, wenn der Präsident zur UN-Drogenkonferenz reist, dort Koka-Blätter kaut und dafür wirbt, die Pflanze von der Liste der kontrollierten Substanzen der Drogen-Einheitskonvention zu streichen. Die propagierten Alternativen, etwa Koka-Tee oder -Zahnpasta, können die gegenwärtig erzielten Erlöse nicht adäquat ersetzen, jedenfalls nicht auf Basis des Weltmarkts.

Solange hier kein tauglicher Ersatz gefunden ist, was faktisch ausgeschlossen sein dürfte (welches Produkt wäre so teuer wie der Rohstoff für Kokain?), kann die Transformation der Wirtschaft nicht bei der bloßen Aufhebung des Anbauverbots für Koka-Pflanzen ansetzen. Andernfalls würde indirekt die Kokain-Produktion legalisiert.

Es geht also vielmehr um ein alternatives Szenario, das sich von der einseitigen Fixierung auf den Weltmarkt verabschiedet. Mit Hilfe der bereits im Aufbau befindlichen „Bolivarischen Allianz für Amerika“ (ALBA) könnte es gelingen, gemeinsam mit Kuba, Venezuela, Ecuador und anderen Staaten eine solidarische regionale Alternative zum kapitalistischen Weltmarkt zu entwickeln.[8]

Auf diese Weise wäre es möglich, Koka wieder rein traditionell zu nutzen. Zugleich würde sich für die Cocaleros der Anbau anderer Nutzpflanzen wieder lohnen – und eine andere weltmarktunabhängige Ökonomie in die Wege geleitet werden.

So könnte sich das Wahlergebnis vom Dezember tatsächlich als wichtiger Schritt in Richtung eines eigenen, bolivianischen Weges zum Sozialismus erweisen. Grundlage dafür wäre, in Verbindung mit den anderen ALBA-Staaten, die kommunitäre Basis Boliviens.

Fest steht: Will Evo Morales tatsächlich einen anderen als den staatskapitalistischen Weg gehen, dann muss er mehr leisten, als das auf dem Weltmarkt verdiente Geld an lokale Gemeinschaften zu verteilen. Wie der andine Sozialismus letztlich aussehen könnte, dazu gibt es derzeit allerdings nur erste Überlegungen auf Basis des indigenen „guten Lebens“, etwa von Boliviens Außenminister David Choquehianca:

„Für uns Indigene ist nicht das Geld die wichtigste Sache, nicht einmal der Mensch. Das wichtigste für uns ist das Leben. […] Wir wollen Harmonie zwischen Menschen und Natur.“[9]

Ob auf Grundlage der kommunitären Selbstorganisation und Selbstregierung, die es in Bolivien nicht nur auf dem Land, sondern auch in den Städten gibt,[10] im ganzen Lande eine neue, demokratische Organisation von unten nach oben aufgebaut werden kann, ist noch völlig offen. Denn dafür ist neben der Besinnung auf die Tradition auch eine Transformation der lokalen Strukturen nötig – im Geiste der andinen Tradition der Gemeinschaft.

Doch selbst wenn die Comunidad als Keimzelle für eine neue, antikapitalistische, solidarische Gesellschaft verstanden wird, kann die Organisation der Dorfgemeinde von einer progressiven Bewegung nicht einfach unbesehen übernommen werden, sondern muss den Anforderungen auf regionaler und nationaler Ebene angepasst werden.

Gelingt diese Transformation jedoch tatsächlich, stellt sich bei der nächsten Wahl jedenfalls nicht mehr die (primär diffamierend angelegte) Frage, ob sich Morales nur eine weitere Präsidentschaft sichern wolle. Dann nämlich wäre die politische Bewegung nicht länger von einer Person abhängig, die „Neugründung“ Boliviens also wirklich geglückt. Bisher allerdings ist der überwältigende Wahlsieg von Evo Morales nur eine weitere wichtige Etappe der bolivianischen demokratisch-kulturellen Revolution.

[1] Vgl. Isabel Rauber, Boliviens demokratische Kulturrevolution, in: „Das Argument“, 276 (2008), S. 381-386. [2]  Vgl. Waldo Acebey, Reich und skrupellos. Kroaten in Santa Cruz, in: „ila“, 5/2008, S. 21. [3] Vgl. Helge Buttkereit, Utopische Realpolitik. Die Neue Linke in Lateinamerika, Bonn 2010, S. 21 und 101ff. [4] Vgl. „junge Welt“, 12.11.2009, S. 9. [5] Vgl. Muruchi Poma, Das Wirtschaftsmodell Boliviens, in: „Quetzal Online Magazin“, www.quetzal-leipzig.de. [6] Álvaro García Linera, El „capitalismo andino-amazónico“, zit. nach Thomas Fritz, ALBA contra ALCA, Berlin 2007. [7] Vgl. hierzu Robert Lessmann, „Coca sí, cocaína no!“, in: „lateinamerika anders“, 2/2009, S. 4-7. [8] Vgl. Buttkereit, a.a.O., S. 132ff. [9] Zit. nach dem Interview in: „Punto Final“ (Chile), 681, 20.3.2009. [10] Vgl. Raul Zibechi, Bolivien. Die Zersplitterung der Macht, Hamburg 2009; Buttkereit, a.a.O., S. 98ff.